„Niemand von uns war ja dabei“ – Archäobiologische Methoden zur Fundgutuntersuchung

Woher wissen wir, wie das Mittelalter war?

„Keiner von uns hat ja im Mittelalter gelebt, woher wollen wir dann wissen wie es war?“ „Wir sind ja alle nicht dabei gewesen, deswegen können wir nicht wissen, wie es im Mittelalter war.“ „Woher soll man denn wissen wie es wirklich war, es gibt ja keine Quellen aus der Zeit!“

All diese Aussagen haben wir sicherlich alle schonmal gehört oder vielleicht sogar selbst getätigt. Doch moderne Wissenschaften eröffnen uns einen sehr guten Einblick in vergangene Zeiten. Wie das funktioniert erklären wir euch in dieser Reihe.

Heute: Archäobiologie: Was ist das und was kann sie uns über das Mittelalter sagen?

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Ärcheobiologie ist eine bedeutende Teildisziplin der modernen archäologischen Forschung geworden. Sie liefert wertvolle Erkenntnisse über beispielsweise die Ernährung, Lebensweise und die Umwelt menschlicher Gemeinschaften früherer Epochen im regionalen und im überregionalen Kontext.

Anhand der Analyse von Fundgütern wie menschlichen, tierischen und pflanzlichen Überresten, werden Erkenntnisse mittels vielfältiger wissenschaftlicher Methoden gewonnen und daraufhin Schlussfolgerungen und Hypothesen über das gesellschaftliche Zusammenleben, über die gesundheitliche Situation des Menschen sowie über allgemeine soziokulturelle Aspekte früherer Lebensgemeinschaften erstellt.

Geschichte der Archöobiologie

Die archäobiologische Forschung beginnt in etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Grundlagen für zwei bedeutende Gebiete der Archäobiologie (Archäozoologie und Archäobotanik) legten hierbei unter anderen die Forscher Ludwig Rütimeyer (1825-1895) und Oswald Heer (1809-1883). Insbesodere die Erforschung der Pfahlbauten in der Bodenseeregion um 1854 stellt einen wichtigen Ausgangspunkt archäobiologischer Forschungsarbeiten dar. Von den ursprünglichen Untersuchungen in der Schweizer Bodenseeregion breitete sich die wissenschaftliche Methodik der Archäbiologie in den Rest Europas und folgend nach Nordamerika aus und entwickelte sich stetig weiter.

Es lassen sich in etwa 3 Phasen der Archäobiologie feststellen, die aus einer Pionierphase (1860er-1900), einer naturwissenschaftlicher Spezialisierung innerhalb des Forschungsbereiches (1900-1950) und der Entwicklung der modernen Archäobiologie (1950-heute) bestehen.

Vorerst standen vor allem biologisch-entwicklungsgeschichtliche Fragestellungen im Vordergrund, beispielsweise die Untersuchung der Verbreitung und Artbestimmung also Systematisierung der Menschen, Pflanzen und Tiere in der jeweiligen Region und deren Einbindung in die Entwicklungsbiologie. Die eher der typischen Archäologie zugeordneten Zielsetzungen, wie die Erforschung soziokulureller und ökonomischer Aspekte von menschlichen Gemeinschaften wurden vorerst nur zögerlich ab den 1950er Jahren Teil der archäobiologischen Untersuchungen und darauf basierenden Hypothesen, stellen aber in den letzten Jahrzehnten einen bedeutenden Aspekt des Forschungsfeldes dar.

Wo und wie wird die archäobiologische Forschung konkret angewandt?

Generell sind die Analysen der Fundstätten und des dort vorhandenen Fundgutes stark vom Grad der Zersetzung der Überreste abhängig. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass je geringer der Zersetzungsgrad des Fundgutes ist, und je mehr Fundmaterial vorhanden ist, desto besser lassen sich die Analysen durchführen und Schlussfolgerungen ableiten. Somit stellen im Rahmen der mittelalterlichen Archäobiologie insbesondere Latrinen einen wichtigen Fundortstyp dar. Da Latrinen als eine wichtige Entsorgungsstätte der Bevölkerung nicht nur für Fäkalien, sondern auch für Kochreste und Küchenabfälle darstellten, und zudem auch Bauschutt und Haushaltsabfälle (bsp. Keramik und Gläser) dort entsorgt wurden, bieten sie üblicherweise an eine hohe Menge an Fundmaterial für die Archäobiologie.

Als Beispiel seien hier Knochenreste von Tieren, Samen, Frucht-und Pflanzenreste genannt, die Rückschlüsse über die verwendeten Rohstoffe bei der Nahrungserzeugung und somit der Essgewohnheiten der Gemeinschaft am Fundort und weitere Aspekte des soziokulturellen Zusammenlebens ermöglichen. Latrinenfunde sind oft noch sehr gut erhalten also kaum zersetzt.

Dies ist mit dem Ablagerungsort zu erklären. Da die Latrinenabfälle im feuchten Milieu unter nahezu Luftausschluß vorliegen, ist eine Zersetzung des Materials durch sauerstoffbedürfende Bakterien nahezu ausgeschlossen. Zudem wurden Latrinen zur Geruchsbindung regelmäßig gekalkt, womit das in den Knochen und Fäkalien enthaltene Phosphat chemisch in Calciumphosphat umgewandelt werden konnte (Mineralisierung). Dies führte erneut zu einer Stabilisierung des Materials und zur Verhinderung der Zersetzung der Latrineninhalte. (Und zeigt gleichzeitig, dass der Mythos von den zum Himmel stinkenden Latrinen, deren Geruch die ganze Stadt verpestet eben genau das ist: Ein Mythos)

Das tierische und pflanzliche Fundmaterial aus Latrinen wird mittels verschiedener wissenschaftlicher Methoden analysiert. Die organischen und nicht organischen Funde werden vorerst vorsichtig voneinander getrennt. Hierzu werden die Materialien beispielsweise durch Filtration über Siebe getrennt. Eine weitere Methode ist die Schlämmung es Materials mit Wasser und die Ausnutzung unterschiedlicher Sinkgeschwindigkeiten der Bestandteile im Wasser. Des Weiteren kann auch die Flotation genutzt werden, wobei Gas dem aufgeschlämmtem Material zugesetzt wird. An dessen Blasen steigen angeheftet, je nach Stoffeigenschaft, Teile des Fundmaterials an die Oberfläche und können dann abgetrennt werden. Das Fundmaterial wird oft auch noch weiter getrocknet und aufgereinigt und natürlich auch linearisch vermessen, gewogen und fotografiert. Anschließend wird das Materialweiteren spezifischeren Untersuchungen zugeführt.

Beispielsweise werden Holzfunde in der Dendrochronologie mikroskopisch untersucht, um die Verarbeitung des Holzes, als beispielsweise Bauholz, zu analysieren und auch die Feinheiten des Materials, die Maserung und Art der Pflanzengewebe und -zellen optisch zu untersuchen und zu systematisieren. Dann werden oft kleinere Proben der Ursprungsprobe entnommen und weiter untersucht.

Hierzu zählen Verfahren der Isotopenanalyse um anhand der Verteilung der Kohlenstoffisotope eine Altersbestimmung vorzunehmen. Hierzu sei kurz erläutert, dass Pflanzen Kohlendioxid aus der Atmosphäre zur Photosynthese aufnehmen. Kohlenstoff, als Teil des Kohlendioxids, liegt in der Natur stets in einem konstanten Verhältnis von nicht-radioaktivem und radioaktivem Kohlenstoff vor.

Somit liegt in den Pflanzengeweben ein konstanter Anteil an radioaktivem Kohlenstoff vor, da sie zu Lebzeiten durch die Fotosynthese konstant Kohlenstoffdioxid zum Wachstum aufnehmen. Nach dem Absterben der Pflanze wird jedoch kein neuer radioaktiver Kohlenstoff zugeführt und der bereits angelagerte radioaktive Kohlenstoff baut mit einer bekannten Halbwertszeit ab. Somit lässt sich bei Feststellung des im Fundguts noch vorhandenen radioaktiven Kohlenstoffanteils ein Rückschluss über das Alter des Pflanzenmaterials treffen.

Des Weiteren können massenanalytische Methoden, wie Kernresonanzspektroskopie einen Rückschluss über die elementare Zusammensetzung, beispielsweise den Schwermetallgehalt, der Proben liefern.

Eine weitere moderne Methodik stellt den Aufschluss der Proben durch nasschemische Verfahren sowie enzymatischen Aufschluss dar, um in dem Fundmaterial enthaltene DNA zu isolieren und diese folgend elektrophoretisch zu analysieren. Dies ermöglicht die Artbestimmung der Tiere und Pflanzen im Fundgut.

Neben der Analyse der Einzelproben wird auch eineRückschluss über die Gesamtzusammensetzung der Funde möglich. Beispielsweise kann ein Mengenverhältnis von gefundenen Schweineknochen zu gefundenen Rinderknochen oder Fischknochen Rückschlüsse über die Nahrungszusammensetzung der Lebensgemeinschaft bieten. Ebenso lassen die Knochenuntersuchungen Schlussfolgerungen über den Gesundheitszustand und Ernährungszustandes der Tiere und Menschen zu. Anhand der Bestimmung von Pflanzenresten und Samen kann auf die landwirtschaftliche Anbausituation und die Verfügbarkeit von Getreide-, Gemüse und Obstarten geschlossen werden. Dies wiederum kann eine sehr gute Beschreibung der Lebensverhältnisse, dem Wohlstand und der Kultur der jeweiligen Gemeinschaft am Fundort ermöglichen.

Weitere statistische Methoden wie die Korrespondenzanalyse erlauben die Darstellung verschiedener Variablen und ihrer Abhängigkeit untereinander im Fundgut eines Standortes oder zwischen verschiedenen Fundstätten einer Region oder Stadt oder nur eines Stadtviertels, um ein möglichst vollständiges Bild der Lebensumstände zu geben.

Trotz modernster Methoden von denen hier nur einige genannt wurden, wird die Interpretation des Fundgutes häufig nicht nur über den Zustand des Materials und die gefundenen Menge erschwert. Beispielsweise bilden Pflanzen, je nach Art, unterschiedliche Mengen an Samen und somit sind Rückschlüsse über die Ernährung allein anhand der Mengenverhältnisse im Fundgut oft kompliziert.

In diesem Zusammenhang wird insbesondere die Korrelation zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft und klassischen Archäologie zur Untersuchung des nicht organischen Fundgutes, wie beispielsweise dem Haushaltsguts wie Keramik, unabdingbar. War der Fundort eher dem städtischen oder ländlichen Bereich zuzuordnen? Weisen Schrift oder Bildquellen auf eine eher wohlhabende Bevölkerungsschicht am Fundort hin? Ist die Zweckmäßigkeit des Fundortes belegbar, also war er beispielsweise eine Schlachthauslatrine, die sich von der Latrine eines Bürgerhauses unterscheidet? Gibt es Belege über den Handel und die Güter in der Region des Fundortes und die umgeschlagenen Waren? Ist beispielsweise die am Fundort gefundene Keramik repräsentativ für das weitere Umfeld und weitere Fundorte in der Nähe?

Hier wird deutlich, dass die Archäobiologie trotz ihrer weitreichenden und stetig wachsenden Methodik nur eine Teildisziplin darstellt und die akkurate Darstellung der Lebensumstände, sozioökonomischer Strukturen und der kulturellen Aspekte des menschlichen Zusammenlebens früherer Epochen vielmehr aus einem Kaleisoskop verschiedenster Quellen und Fundgüter und deren Analysen erwächst und einem stetigen Austausch der Wissenschaftler der verschiedenen Disziplinen und einer Korrelation ihrer Untersuchungen bedarf.

Dies ist aber auch in völlig anderen Gebieten der Wissenschaften immer unbedingt nötig um fundierte und ergebnisoffene Forschung zu betreiben und macht genau den Spaß an der Sache aus, oder?

Jens

Weiterführende Literatur

  • Brombacher, C.; Rehazek, A: Ein Beitrag zum Speisezettel des Mittelalters: archäobiologische Untersuchungen von Latrinen am Beispiel der Stadt Schaffhausen , Archäologie der Schweiz Band 22 (1999)
  • Doppler, T.; Picler, S., Jamocet, S.; Schibler, J.; Röder, B.: Archäobiologier als sozialgeschichtliche Informationsquelle: ein bislang vernachlässigtes Forschungspotential; Familie, Verwandtschaft, Sozialstrukturen: Sozioarchäologische Forschungen zu neolithischen Befunden, Berichte der AG Neolithikum Band 1, 119-139 (2010)
  • Jacomet; S.: Archäobotanik. UTB Stuttgart (1999)
  • F.J. Green, Phosphatic mineralization of seeds from archaelogical sites. Journal of Archaelogical Science 6 (1979)

*Jegliche empfohlene Literatur in diesem Beitrag beruht allein auf unserer persönlichen Meinung und wurde nicht gesponsort.